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Sylke Wohlschiess, 4.4.2013

http://www.thatsmusical.de/magazin/bizarre-maerchenwelt-alice-in-karlsruhe-a101485.html


Badische Neueste Nachrichten, 29.9.2012

Zeitlebens im Traum gefangen
Fantasievolle Episodenrevue: Wilson/Waits-Musical „Alice“ in Karlsruhe

150 Jahre ist es nun her, dass der Mathematiker und Fotograf Charles Dodgson diese skurrile Geschichte erfand, um die kleine Alice Liddell und ihre Geschwister zu unterhalten. Daraus ist eines der bekanntesten Bücher der Weltliteratur geworden, ein „all-ages“-Bestseller lange vor Harry Potter. Ein Erfolg, den Dodgson unter dem Pseudonym Lewis Carroll feierte – und der in der Forschung wiederholt die Frage aufwarf, wie genau denn sein Interesse an der seinerzeit zehnjährigen Alice, die er mehrmals fotografiert hat, beschaffen war. (…)

Diese Frage liefert den Rahmen für das Musical „Alice“ aus dem Jahr 1992, mit dem Robert Wilson (Konzept und Regie) und Tom Waits (Musik) am Hamburger Thalia-Theater ihre mit „The Black Rider“ begonnene Zusammenarbeit fortsetzten. Erst in diesem Frühjahr wurden die Aufführungsrechte an „Alice“ freigegeben, daher musste das Musical 20 Jahre auf seine Zweitinszenierung warten. Diese erfolgte nun in der Regie von Daniel Pfluger und wurde am Badischen Staatstheater vom Premierenpublikum mit minutenlangem Beifall gefeiert.

Kein Wunder: Allein was das achtköpfige Ensemble (plus vier Kleindarsteller) und die sechsköpfige Band hier leisten, ist den Applaus wert. Musikalisch ist der über zweieinhalbstündige Abend ein Fest: Unter Leitung von Pianist Clemens Rynkowski, der mit dem exotischen Elektronik-Instrument Theremin auch eine bezirzend außerweltliche Klangdimension beisteuert (am ehesten vergleichbar mit einer singenden Säge), setzen die Musiker die 16 Songs im Waits-typischen Kosmos zwischen schrägem Varieté und Gossenblues sehr facettenreich in Szene. Und mehr: Auch jeder Soundeffekt, vom Türequietschen bis zur Warnsirene, kommt hier punktgenau aus dem Orchestergraben.

Und die zentralen Rollen sind auch gesanglich stark besetzt. Besondere Präsenz gewinnt hier Robert Besta als Charles Dodgson, der mit düsterem Charisma und so druckvoller wie tonsicherer Stimme als weißes Kaninchen sein Gegenüber ins Wunderland lockt. Die nicht mehr mädchenhaft junge Ursula Grossenbacher als Alice zu besetzen erweist sich als schlüssig: Grossenbacher kann großäugig staunend dastehen wie ein kleines Mädchen und mit ihrer markant-herben Chanson-Stimme die Melancholie der reifen, zurückblickenden Frau ausdrücken. So hält sie einem ständig die Zerrissenheit von Alice vor Augen – einer Frau, die zeitlebens in einem Traum lebt, in dem sie auf ewig ein kleines Mädchen bleibt.

Das passt zu den zwei Kernfragen des Abends: Wer bin ich? Und was tut die Zeit mit mir? Diese aus Carrolls Buch herausdestillierten Leitmotive betont auch das Bühnenbild (Flurin Burg Madsen. (…) Durch klug gesetzte Akzente genügen der Ausstattung und der Regie wenige Bauten, um jenes Verwandlungsbühne aufzufahren, die man in einer „Alice“-Adaption erwarten darf. Die fantasievollen Kostüme von Janine Werthmann tun ihr Übriges und veredeln unter anderem die hinreißenden Auftritte von Hannes Fischer als opulent aufgedonnerte Rose (mit einem der berührendsten Songs des Abends: „No one puts flowers on a flower’s grave“) und als dämonische Grinsekatze sowie Gunnar Schmidt als depressives Schaf, das seine eigene Wolle verstrickt.

Einen echten Spannungsbogen bleibt die Aufführung zwar schuldig, weshalb die zweite Hälfte manche Länge aufweist – die Vorlage ist eben sehr episodenhaft gestaltet. Dennoch ist hier ein Abend gelungen, der unterhält, berührt und nachhallt. Etwa wenn Alice von einem Reh (Natanaël Lienhard) gefragt wird: „Wie sollen wir miteinander reden, wenn wir nicht wissen, wer wir sind?“ und darauf antwortet: „Wie sollen wir wissen, wer wir sind, wenn wir nicht miteinander reden?“ Andreas Jüttner


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