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www.nachtkritik.de, Steffen Becker, 3.3.2013

Das Setting dieser Inszenierung der Reihe "philosophisches Theater" versucht (…), jede Anspannung vom Publikum abfallen zu lassen. Helfer versichern, dass schlafen in Ordnung ist. Sie liefern Vitamine und Kekse, bieten eine Rückenmassage an und geleiten in der Pause zur Toilette. Anne Neuser (Bühne) spannt über die Besucher eine Art Zelt, das verklärte Pfadfinder-Erinnerungen wachrufen.
Das fühlt sich wohlig-entspannt an – und ist eine Wurzel des Dilemmas, das Otteni seinem Publikum zur individuellen Lösung darreicht. Während man sich in der Decke wälzt, wird man aufgewirbelt von den Schauspielern Ursula Grossenbacher, Thomas Halle und Gunnar Schmidt. Sie diskutieren lautstark über die philosophischen Fragen der Müdigkeit, demonstrieren Accessoires für den Power-Nap (flauschige Vogel-Strauß-Masken) und veranschaulichen die Oberflächlichkeit von Multitasking mit Affeneinlagen. Ihre Haupttexte von Handke und Han fordern Konzentration, ebenso die Schlenker zu Platons Höhlengleichnis, zu Herman Melvilles Anwaltsgehilfen Bartleby, griechischen Göttersagen und Friedrich Nietzsche.
Man muss sich entscheiden, nach welchem Prinzip man der Vorstellung folgt – gibt man dem Impuls der Müdigkeitsgesellschaft nach, kann man sich der Entspannung kaum hingeben. Denn das bedeutet mit dem Prinzip eines Theaterbesuchs als Fortbildung zu brechen. (…) Darf ich einfach an die Decke starren und etwas verpassen? Kann ich mich mit dem Stück gut fühlen oder muss ich erst benennen können, warum?
Besonders eindrucksvoll demonstriert Otteni diese Ambivalenz von Müdigkeit, als ein Junge eine Matratze entert, weil er allein nicht schlafen kann. Es wirkt wie eine ungewollte Unterbrechung und die Schauspieler stellen ihn mit dem Kinderlied "LaLeLu" und aggressivem Ton ruhig. Zum Schluss gehen sie dann einfach, ihr Gute-Nacht-Gesang verhallt und das Publikum schaut eine Weile in den künstlichen Sternehimmel. Nach zwei Stunden siegt dann doch das körperliche Verlangen nach Spannungsabfall und es hat sich wohlige und als Gemeinschaft empfundene Ermattung breit gemacht. (…)

http://www.nachtkritik.de


Süddeutsche Zeitung, Christine Dössel, 5.3.2013

Normalerweise kämpft man gegen ihn an, und wenn er einen übermannt, ist es immer ein bisschen peinlich. Der Theaterschlaf gilt schließlich nicht als unabdingbare Abendreaktion auf das Leistungsprinzip unserer Effizienzgesellschaft, sondern ist zuallererst ja doch - ganz unmittelbar - einer tiefen Langeweile geschuldet. Für die der Zuschauer sich in der Regel schämt, weil er glaubt, es liege an ihm, wenn er nichts von dem, was auf der Bühne verhandelt wird, versteht. Die wegnickenden und beschämt wieder hochzuckenden Köpfe in den Parketten des Landes erzählen davon: dass die Menschen im Theater gerne schlafen würden, es aber nicht dürfen. Diesmal ist das anders. (…) 'It's okay if you sleep' steht auf den T-Shirts der freundlichen Helfer, die den Zuschauern im Laufe des Abends Nackenmassagen, Apfelschnitten und Schokokekse anbieten. Man wird ausdrücklich 'zur Entspannung' aufgefordert - aber da beginnt schon das Problem. Jedes Theaternickerchen im dunklen Parkett ist entspannender als das zur Schau gestellte 'Liegen' bzw. Liegeposition-Suchen im Karlsruher Schlaflabor. Es hat schon seinen Sinn, dass man im Theater aufrecht sitzt. Das Lümmeln ist der Konzentration nicht sehr förderlich, auch sieht man nur eingeschränkt - und überhaupt ist es anstrengend, den Texten der Herren Han & Handke und gleichzeitig der Wellness-Auflage des Regisseurs zu folgen. Darin mag eine gewisse Perfidie liegen. (…) Zielführend im Sinne einer Erkenntnis ist das nicht. Handke schreibt: 'Aber gehört zu dem richtigen Müdesein, ebenso wie zu dem richtigen Fragen das Aufstehen, nicht das Sitzen?' Unbedingt!
Kein Leidensdruck ist da zu spüren, keine Überforderung, nichts von der 'Erschöpfung, Ermüdung und Erstickung' angesichts eines 'Zuviel', welches Byung-Chul Han in seinem 2010 erschienenen Essay 'Müdigkeitsgesellschaft' unserer Zeit attestiert. Han greift Theorien von Nietzsche, Hanna Ahrendt und Alain Ehrenberg auf, um das Problem einer Gesellschaft der Selbstausbeuter zu beschreiben. Die 'Disziplinargesellschaft', wie Foucault sie beschrieb, mit ihrer Negativität des Verbots, sei abgelöst worden durch eine 'Leistungsgesellschaft' mit einem Übermaß an Positivität: 'An die Stelle von Verbot, Gebot oder Gesetz treten Projekt, Initiative und Motivation.' Es herrscht das Positivschema des Könnens - 'Yes, we can!' -, das effizienterweise beim Individuum mit dem Gefühl der Freiheit einhergeht. Und geradewegs in Burn-Out und Depression führt.
Verzahnt wird diese Bestandsaufnahme mit jener ganz anderen Form von Müdigkeit, die Handke beschreibt und auf die auch Han schon Bezug nimmt. Es ist eine Müdigkeit, die den Menschen am Ende womöglich wieder empfänglicher, durchlässiger, empfindsamer macht, 'die Müdigkeit als das Mehr des weniger Ich'. Oder jedenfalls so ähnlich. Dieser 'höchsteigenen' Müdigkeit hätte man gerne nachgespürt. (…)


3sat Kulturzeit, Susan Christely, 3.3.2013

Müdigkeit - ein Phänomen unserer Zeit. Ein Stück am Staatstheater Karlsruhe hinterfragt das Müde-Sein anhand zweier Texte: Byung-Chul Hans "Müdigkeitsgesellschaft" und Peter Handkes "Versuch über die Müdigkeit". Zwei Stunden des Liegens führen zu der Erkenntnis, dass Müdigkeit nicht nur quälend, sondern auch heilend sein kann. Geistreiche Texte, anregende Thesen: Regisseur Stefan Otteni hat einen originellen Abend geschaffen, inklusive Betthupferl und Nackenmassage - und vor allem ein Theater ohne das Risiko, Zeit zu verschwenden. Kalkuliertes Abschalten kombiniert mit Philosophie - es gibt bessere Gelegenheiten zu schlafen.


SWR2, Julia Haungs, 4.3.2013

(…) Die Schauspieler treten an diesem Abend nicht in Rollen auf, teils referieren sie die Texte frei, oder lesen sie aus dem Buch vor. Teils unterhalten sie sich darüber, kommentieren und bringen persönliche Müdigkeitserlebnisse mit ein. Dazwischen werden von den Helfern Snacks gereicht, Massagen angeboten, und die Schauspieler versuchen mit dem Publikum eine gesunde Verweigerungshaltung einzuüben. Melvilles berühmtes Bartleby-Credo: „Ich möchte lieber nicht“ als Schutzschild gegen das „Ja, ich kann“ der Leistungsgesellschaft.

G: „Es gibt bei uns hier offensichtlich in dieser Vorstellung viele, die das sehr nötig haben diesen Satz wirklich mal zu lernen. Ich versuch‘s mal hier, wie wär‘s mit ihnen. Morgen zwei Stunden früher aufstehen? Zehn Kilometer durch die Günther-Klotz-Anlage um wirklich fit und leistungsfähig zu bleiben?“

Gast: „Ich möchte lieber nicht“

G: „Gar nicht so schwer.“

Durch die spielerische Form gelingt es Regisseur Stefan Otteni das theoretische Gewicht der Texte aufzufangen und die Zuschauer trotz liegender Haltung zu aktiven Zuhörern zu machen, denn natürlich sagen die wenigsten „Ich möchte lieber nicht - zuschauen und dösen“. Stattdessen drehen sich die Zuschauer ständig auf der Matratze um den Schauspielern bei ihren Bewegungen durch den Raum zu folgen und sind so viel aktiver und vermutlich auch konzentrierter als wie es im Sitzen je wären. Allerdings hätte der Inszenierung eine etwas straffere Struktur gut getan. Im zweiten Teil verliert sie ihren ohnehin schon lockeren Rhythmus und fadet dann doch sehr gedehnt aus. Insgesamt überzeugt der Abend aber durch seinen intelligenten Umgang mit den Texten und die angenehm entspannte Atmosphäre. Sie trägt dazu bei, sich auf philosophische Fragen einzulassen und die eigene Rolle im Gefüge der Leistungsgesellschaft zu hinterfragen. Das ist gar nicht ermüdet, sondern im Gegenteil: sehr anregend.


Badisches Tagblatt, Ute Bauermeister, 5.3.2013

(… ) In einem außergewöhnlich intensiven und intimen Theaterabend versetzt Regisseur Stefan Otteni die Zuschauer in eine angenehme "Wir-Müdigkeit", in einen entspannten Zustand des Sich-rund-um-Wohlfühlens. Alles ist anders bei dieser Uraufführung am Badischen Staatstheater Karlsruhe. Lässt sich aus dem Text des Philosophen Byung-Chul Han "Müdigkeitsgesellschaft" gepaart mit der poetischen Abhandlung "Versuch über die Müdigkeit" des Dichters Peter Handke ein Theaterabend machen? Stefan Otteni gelingt es meisterhaft. Sprache wird Erlebnis, Gedanken und Theorien werden sinnlich wahrnehmbar.

(…) Ganz in Schwarz gekleidet verkörpern Gunnar Schmidt, Thomas Halle und Ursula Grossenbacher drei beeindruckende "Müde". (…) Regisseur Otteni verbindet Handke und Han zu schlüssigen Denkanstößen über Alleinmüdigkeit, über durchlässige oder entzweiende Müdigkeit, den Wandel von der Dienstgesellschaft zur Leistungsgesellschaft. Man spürt immer deutlicher, wie wichtig ein kontemplatives Schauen und auch die Langeweile eigentlich sind.

Wenn Gunnar Schmidt das anhand einer Episode wunderbar vorspielt oder Thomas Halle komplett ausrastet, sich fragend, warum eigentlich keiner mehr wütend wird, dann fährt Ursula Grossenbacher spitzbübisch die Hitze wieder runter. Die drei geben ein Spitzenmüdigkeitsteam, das auch Leinwand, Maske und Pantomime grandios einbezieht. (…) Die Premiere endet wunschgemäß: Ein entspanntes Publikum gibt sich staunend einer angenehmen Wir-Müdigkeit hin: Das muss man erlebt haben!


Badische Neueste Nachrichten, Andreas Jüttner, 4.3.2013

Über die Premiere vom Samstagabend schreiben? An einem so sonnigen Sonntag? Ich möchte lieber nicht.
Andererseits: So wörtlich wollen die Macher der Produktion „Müdigkeitsgesellschaft / Versuch über die Müdigkeit“ den zentralen Satz ihres Abends vielleicht doch nicht befolgt sehen.
Man tauscht am Einlass seine Schuhe gegen Bettzeug, sucht sich eine freie Matratze unter dem aufgespannten Zelthimmel auf der Studiobühne – und kann in den folgenden zwei Stunden dort sitzen, hocken, kauern, liegen und sogar schlafen. Wobei zumindest Letzteres bei der Premiere nicht offenkundig eintrat (zumindest nicht in jenen Phasen, die der Rezensent aufrecht mit offenen Augen verbrachte), weil dann doch niemand verpassen wollte, wie sich Ursula Grossenbacher, Thomas Halle und eben Gunnar Schmidt unter der Regie von Stefan Otteni der Collage aus Byung-Chul Hans Essay „Müdigkeitsgesellschaft“ und Peter Handkes „Versuch über die Müdigkeit“ widmen.
(…)
Dramaturgisch ist diese Textcollage bewusst unaufdringlich gehalten. Anfangs, wenn noch mehr Besucher sitzen als liegen (man ist ja schließlich im Theater), gibt es noch ein paar Spielchen mit einer Filmleinwand und dem Publikum, dem der eingangs erwähnte Satz „Ich möchte lieber nicht“ aus Herman Melvilles Novelle „Der Schreiber Bartleby“ als Ausweg aus dem Hamsterrad nahegelegt wird. Später konzentriert sich der Abend immer mehr auf quasi-platonische Dialoge über die Müdigkeit, wobei unter anderem auch Platons Höhlengleichnis neu gedeutet wird: als Plädoyer für eine Welt des schönen Scheins, also für das Theater. Das unaufgeregte Sprechen, ab und zu unterbrochen durch Gute-Nacht-Lieder, schläfert zwar nicht direkt ein, wirkt aber auf Dauer angenehm beruhigend: So lange die drei da reden, weiß man, wird nichts Schlimmes geschehen. Als dann das Ensemble abgeht, das letzte Lied bis zum endgültigen Verhallen in den langen Gängen des Theaterbaus singend, bleibt das Premierenpublikum erst mal in entspannter Wir-Müdigkeit liegen. (…)


Stuttgarter Zeitung, Georg Patzer, 4.3.2013

Alle sind müde. Räkeln sich auf Matratzen, schieben die Decken und Kissen hin und her. Einer hat den Kopf aufgestützt, ein paar liegen ausgestreckt auf dem Rücken, bewegungslos. Schnarcht da einer? Es ist ein ungewohntes Bild, das sich im Theater bietet: Fünfzig Zuschauer, die auf Matratzen lagern, sich aalen, wälzen, drehen; den Nacken massiert bekommen; einen Apfelschnitz, später einen Keks serviert bekommen; denen man Schlaflieder vorsingt, dabei das Licht langsam und sachte abdreht, bis nur noch ein paar Globen leuchten und ein kuschliges Kinderzimmerlicht verströmen, Sterne glitzern über den Köpfen, über die Leinwand huschen ein paar Sternschnuppen. Eine Kuschelparty? Nein, Theater, aber in etwas anderer Form. Wer sagt denn, dass Theater immer hier eine Bühne, dort die Zuschauer bedeuten muss; dass immer etwas passiert, Charaktere sich entwickeln; dass die Zuschauer sitzen und die Schauspieler agieren - vor allem bei diesem Thema: der Müdigkeit.

'Müdigkeitsgesellschaft / Versuch über die Müdigkeit' ist der Abend im Badischen Staatstheater Karlsruhe überschrieben. Zwei Bücher sind die Grundlage für die Texte, die die Schauspieler Thomas Halle, Ursula Grossenbacher und Gunnard Schmidt aufsagen, während sie im Raum herumgehen, auf der Rampe sitzen, in den Ecken liegen: 'Müdigkeitsgesellschaft' des Philosophen Byung-Chul Han und 'Versuch über die Müdigkeit' von Peter Handke. Beide umkreisen ein Zeitphänomen: Statt einer 'Disziplinargesellschaft', die Michel Foucault durch 'Spitäler, Irrenhäuser, Gefängnisse, Kasernen und Fabriken' charakterisierte, eine 'Gesellschaft der Negativität und des Verbots', herrscht jetzt eine 'Leistungsgesellschaft', in der es positiv heißt: 'Yes, we can. Du kannst das, du schaffst das. An die Stelle von Verbot, Gebot oder Gesetz treten Projekt, Initiative und Motivation.'

(…) Dem Regisseur Stefan Otteni gelingt es, aus den widerspenstigen - vor allem bei Han auch manchmal konfusen, dogmatischen - Textfragmenten eine interessante, aber fragile Mischung herzustellen, die den Zuschauer nicht einschläfert, sondern mit Gedankenanstößen in einen Zustand erhöhter Empfänglichkeit versetzt. (…) Es ist ein interessanter Abend, der die Zuschauer leise und unaufgeregt zum Nachdenken verführt.


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