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dpa, Christian Jung, 29.1.2015

Theater-Uraufführung zur Demenz: Wenn die Erinnerungen zerbröseln

Auf humorvolle und trotzdem drastische Weise beschäftigt sich ein neues, vom Publikum gefeiertes Stück am Karlsruher Staatstheater mit dem Thema Demenz.

Im Altenheim zerbröseln die Gedanken- und Lebensschnipsel immer mehr, die Mutter entwickelt sich zurück zum Kind. Immer wieder versucht ihre Tochter herauszufinden, wer ihr Vater ist. Doch auch die von der Demenz Gezeichnete verweigert ihr die Auskunft....


Die Deutsche Bühne, Elisabeth Maier, 29.1.2015

Szenario der Sprachlosigkeit

Vor ihrem Bett im Pflegeheim sitzt die Mutter und zerreißt vergilbte Fotografien. Manchmal schiebt sie Papierschnipsel in den Mund. Drastische und zugleich poetische Bilder findet die junge Regisseurin Katrin Plötner auf der Studiobühne des Staatstheaters Karlsruhe für das Leben der Frau mit Demenz. Der Publizist und Autor Jörn Klare, dessen Mutter selbst an der Krankheit des Vergessens litt, reflektiert eigene Erfahrungen in dem Stück „Du sollst den Wald nicht vor dem Hasen loben“.

Der Titel, ein völlig verdrehtes Sprichwort, spiegelt den geistigen Verfall einer Frau, die einst für ihre Bildung lebte. Unablässig spielt ihre Tochter „Sprichwörter vollenden“ mit ihr, um Reste der Erinnerung hervorzukramen. (...) Regisseurin Plötner und ihr Team finden jenseits der Worte starke Bilder für den Verfall. Melodien und Harmonien zerreißt Markus Steinkellner mit dem Synthesizer. Seine Musik peitscht die Schauspielerinnen in das Gefängnis ihres Unbewussten. Diese Enge spiegelt auch Martin Miotks Bühne. Mit sparsamen Details skizziert er das Wohnzimmer der gebildeten Frau, die im Pflegeheim-Kabuff endet.

(...) Eva Derleder gelingt die ebenso brillante wie anrührende Studie einer Frau, deren Geist abstirbt. In lichten Momenten sucht sie nach Ausflüchten. Dann schminkt sie ihre Lippen zum lächerlichen Clownsgesicht. Sie verliert die Kontrolle über sich. Wie schmal da der Grat zum Verlust der Würde ist, zeigt die Schauspielerin stark. Lisa Schlegel als Tochter fegt zu energisch über die Bedürfnisse ihrer Mutter weg. Jedoch glückt gerade ihr ein betörendes Szenario der Sprachlosigkeit.

Katrin Plötners eineinhalbstündige Regiearbeit erfasst die Facetten der Demenz bemerkenswert sensibel. Wenngleich die junge Regisseurin die Gedächtnislücken der Mutter zu sehr austappt und sogar ins Lächerliche zieht, überwiegen die dunklen, die tiefen Momente. Plötners radikal poetischer Zugriff auf den Text, der schwer aus den Fesseln des Dokumentarischen zu befreien ist, berührt im allerbesten Sinn. Dass der Abend trotz seiner sprachlichen und dramaturgischen Schlichtheit so hervorragend funktioniert, liegt nicht zuletzt an der großen Kraft der Schauspielerinnen.

Lesen Sie die vollständige Kritik hier.


Spiegel online, Tobias Becker, 29.1.2015

... Der Autor Klare hat bereits ein hoch intimes Sachbuch zum Thema veröffentlicht: "Als meine Mutter ihre Küche nicht mehr fand - Vom Wert des Lebens mit Demenz" ist 2012 bei Suhrkamp erschienen und enthält im Kern die Krankengeschichte von Klares Mutter, inklusive manch komischem Dialog zwischen Mutter und Sohn. Klare berichtet von ihren Ängsten und von seinen eigenen, interviewt aber auch Psychiater, Theologen und Philosophen. Die Erkenntnisse hat er nun in sein erstes Theaterstück gegossen.

Es treffen aufeinander: eine Tochter, etwa 40, und deren Mutter, etwa 75. Die Tochter hat lange im Ausland gearbeitet und ist vor kurzem zurück nach Deutschland gezogen, in die Nähe ihrer Mutter. Die neue Nähe will sie nutzen, um endlich mehr über ihren Vater zu erfahren, einen Mann, aus dem ihre Mutter seit Jahrzehnten ein Geheimnis macht. Je mehr Zeit die Tochter mit ihrer Mutter verbringt, desto klarer wird ihr, dass die Zeit drängt: Die Mutter zeigt erste Symptome einer Demenz; sie droht ihr Geheimnis mit ins Grab zu nehmen.

"Jetzt, wo ich wieder da bin", klagt die Tochter, "verschwindest du tatsächlich immer mehr." Sie verflucht das "Neuronenmassaker", das im Kopf der Mutter tobt, das "Erinnerungssäurebad", die "riesige Geschichtenheckselmaschine".

Um das Gedächtnis der Mutter zu trainieren, spielt die Tochter ein Spiel mit ihr: Sie nennt den Beginn eines Sprichworts, die Mutter ergänzt das Ende. "Geiz ... allein macht nicht glücklich." "Doppelt genäht ... heilt alle Wunden." "Du sollst ... den Wald nicht vor dem Hasen loben." Alles gerät durcheinander im Kopf der Mutter - und je mehr durcheinander gerät, desto heftiger überschlagen sich die Emotionen in Klares Stück: Wehmut und Witz wechseln im Sekundentakt.

Herrlich ist dieser Dialog, in dem die Mutter das Spiel umdreht: "Schlafende Hunde?", fragt sie die Tochter aus dem Nichts. "Was, schlafende Hunde?", sagt die gereizt. "Schlafende Hunde werden auch nicht an einem Tag erbaut", sagt die Mutter. "Was?" - "Schlafende Hunde graben anderen eine Grube." - "Nein. Schlafende Hunde ..." - "... bringen Morgenstund?" - "Nein. Schlafende Hunde soll man nicht wecken." - "Siehst Du."

Drama der Angehörigen

Klares dramaturgischer Kniff ist einfach, aber wirkungsvoll: Der Versuch, ein Geheimnis aufzuklären, erzeugt einen Sog - und vermittelt im Vorbeigehen die Erkenntnis, dass Demenz nicht selten das größere Drama für die Angehörigen ist und nur das kleinere für die Demenzkranken selbst. Die Mutter verliert ihre Identität, was natürlich schrecklich ist. Aber die Tochter wird die Wurzeln ihrer Identität vielleicht nie klären.

Als die Tochter sich mit ihrer Mutter alte Fotos anschaut, aus denen der Vater rausgeschnitten ist, zerreißt die Mutter die Fotos, als zerrisse sie ihr Leben. Es ist todtraurig. In der Szene darauf puzzelt die störrische Mutter die Schnipsel wieder zusammen, ihren Kopf auf den Körper der Tochter. Es ist nicht ohne Witz.

Klare geht es um das Drama, dass es bedeutet, wenn ein Mensch geht - und man dem Menschen beim Gehen zuschauen muss. Er schreibt über das Leiden einer Angehörigen, aber anders als in den meisten Demenz-Diskussionen leidet diese Angehörige nicht darunter, dass die Betreuung des geliebten Menschen teuer ist oder zeitraubend. Und auch nicht darunter, dass der sichtbare Verfall des geliebten Menschen emotional belastend ist. All das spielt fast keine Rolle. Die Angehörige leidet darunter, dass auch ein Teil von ihr geht, wenn ihre Mutter geht. Ein Teil von ihrer Geschichte, von ihrer Identität.

Der Theater-Neuling Klare hat sein Stück fast altmodisch genau gebaut, mit einer genauen Vorstellung des tatsächlichen Theaterabends vor Augen. Die Regie könnte sich ins gemachte Nest setzen - aber welche Regie will das schon?

In Karlsruhe zeigt die Endzwanzigerin Katrin Plötner guten Willen. Sie inszeniert sehr reduziert, sehr uneitel, was umso erstaunlicher ist, wenn man weiß, dass der Abend eine ihrer allerersten Arbeiten nach Abschluss am Salzburger Mozarteum ist. Die Regisseurin Plötner versucht erst gar nicht, sich mit einer Überfülle eigener Ideen zu profilieren, sondern arbeitet sehr genau mit den beiden Schauspielerinnen Eva Derleder und Lisa Schlegel. Vor allem Derleder überzeugt, indem sie die Mutter von Minute zu Minute mädchenhafter anlegt: alberner und zappeliger, aber auch verletzlicher. Ein Kind im Körper einer älteren Frau.

Markus Steinkellner hat dazu eine sehr sprechende Musik komponiert: Aus melancholischem Klaviergeklimper wird mit der Zeit elektronische Musik, die Aussetzer enthält. Lückenhafte Klänge, die das Knacken und Knistern und Rauschen der sterbenden Gedanken imitieren.

Lesen Sie die ganze Kritik hier.

 


Schwäbische Zeitung, Jürgen Berger, 29.1.2015

... Klares dramatische Konstellation spielt nicht nur kenntnisreich die verschiedenen Phasen der Erkrankung durch, der Text ist auch ein gelungenes Zweipersonenstück und klassisches Beziehungsdrama. ...

In Karlsruhe inszeniert hat eine Regisseurin, die ihr Studium am Salzburger Mozarteum erst vor zwei Jahren abgeschlossen hat....

Katrin Plötner hat nicht nur sehr genau und emotional stimmig inszeniert, sie hatte auch zwei Schauspielerinnen, die sich vorbehaltlos dem nicht so einfach zu spielenden Dialogstück widmeten.

... Ein bemerkenswerter Theaterabend ...

 


BNN, Andreas Jüttner, 30.1.2015

... Demenz als Theaterthema – das ist angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung überfällig.
... Eva Derleder zeichnet die Mutter zunächst als stolze Selfmade-Frau, die schroff verbirgt, wie sehr sie sich nach der Zuneigung der Tochter sehnt. ...Lisa Schlegel brilliert als Tochter: Nuanciert und natürlich verkörpert sie eine Frau, die beruflich gewohnt ist, Anweisungen zu geben, und sich nun schwertut, ihr Ziel über Umwege anzusteuern. ...
Die Inszenierung von Katrin Plötner überzeugt durch unaufdringliche Präzision und viel Sinn fürs Detail. ... So unterstreicht die 90-minütige Aufführung den Einfluss von Erinnerungen auf die Identität und gibt Denkanstöße über das Thema Demenz hinaus.


SWR 2, Elske Brault, 29.1.2015

... Die Tochter ist plötzlich damit konfrontiert, dass ihre Mutter hilflos wird wie ein Kind. Damit drehen sich die bis dahin bestehenden Machtverhältnisse um: Nicht mehr die Mutter sagt der Tochter, wo's langgeht, sondern umgekehrt. ...
Eva Derleder als Mutter verfällt nicht nur geistig: In der ersten Szene noch elegant in schmaler schwarzer Hose und Designerstrickjacke, in der letzten im schief sitzenden Bademantel mit wirrem Haar. Dazu hat der junge Bühnenbildner Martin Miotk für ihren Umzug von der eigenen Wohnung ins Pflegeheim ein hohes, schmales Bühnenelement gebaut. Auf Rollen beweglich, drehbar und von beiden Seiten einzusehen. ...
Kein Demenz-Kranker ist so weggetreten, dass er lieblose Einrichtung oder lieblose Betreuung nicht spüren würde.

Auch das ist typisch: Kinder dementer Eltern befürchten, die Alten würden lebenswichtige Wahrheiten vergessen und mit ins Grab nehmen. ...Was man aus Rücksichtnahme ein Leben lang vermieden hat anzusprechen, das lässt sich nicht mehr verhandeln, wenn die Alzheimer-Krankheit die Kommunikation mühsam macht. Es ist ein Versäumnis auf beiden Seiten.


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