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Ukrainische und polnische Volksweisen im 3. Sinfoniekonzert

Ukrainische und polnische Volksweisen im 3. Sinfoniekonzert - Foto: Badisches Staatstheater

Der Anfang von Peter Tschaikowskis Klavierkonzert Nr. 1 ist weltberühmt: Die Melodie hat es bis in die Fernsehwerbung geschafft und dürfte zu Tschaikowskis bekanntesten gehören. Was dagegen sehr viel weniger bekannt sein dürfte: Tschaikowski hat in allen drei Sätzen des Konzerts mehr oder weniger populäre Liedmelodien eingebaut, die nicht aus seiner Feder stammten.

Im ersten und letzten Satz zitiert er echte ukrainische Volkslieder: Eine Lirniki-Volksweise, die traditionell von wandernden Volkssängern, begleitet von einer Drehleier, dargeboten wurde, und eine Vesnjanka, ein Frühlingslied. Vielleicht träumte sich Tschaikowski mit diesem Lied ja den ersehnten Frühlingsbeginn herbei – er arbeitete an dem Konzert während des dunklen russischen Winters 1874/75. An seinen Bruder schrieb er zu Beginn des Jahres 1875: „Während des gesamten Winters fühlte ich mich mehr oder weniger niedergeschlagen, manchmal bis zum letzten Grad der Überdrüssigkeit vom Leben, bis zur Sehnsucht nach dem Tode.“ Vor diesem Hintergrund mutet es wie eine Botschaft des Komponisten an sich selbst an, dass es sich bei der dritten zitierten Liedmelodie um ein übermütiges französisches Kabarettlied mit dem Titel Il faut s’amuser, danser et rire handelt: Man muss sich amüsieren, tanzen und lachen!

Auch der polnische Komponist Witold Lutosławski zitiert in seinem 1950–54 entstandenen Konzert für Orchester Volksliedmelodien, allerdings in sehr viel höherem Maße als Tschaikowski. Das Vorbild war Béla Bartóks gleichnamiges Konzert für Orchester, das nur wenige Jahre vorher, 1943, entstanden war. Bartók hatte die Charakteristika vor allem ungarischer und slawischer Folklore in seine eigene Tonsprache eingeschmolzen. Lutosławski dagegen nutzte für sein Konzert konkrete Volksliedmelodiezitate und  verwendete sie nach eigener Aussage „wie Bausteine“. Diese Liedbausteine werden zwar teilweise stark verfremdet und ‚behauen‘, aber sie sind doch so erkennbar, dass einige schon früh von  Musikwissenschaftler*innen identifiziert werden konnten. Ein erst in den 2000er Jahren gefundenes Konvolut von Kompositionsskizzen hat die Forschungsergebnisse bestätigt, darüber hinaus aber auch gezeigt, dass bei weitem nicht alle Zitate erkannt wurden.

Der Großteil der genutzten Lieder stammt aus Masowien, der Gegend rund um Warschau. Das hat mit dem Entstehungsanlass des Stücks zu tun: Lutosławski schrieb es für die gerade neu gegründeten Warschauer Philharmoniker. So wie er ihnen in diesem Konzert die Möglichkeit gibt, ihre Virtuosität unter Beweis zu stellen, demonstriert der Komponist hier indes auch seine eigene Virtuosität im Umgang mit dem Orchesterapparat. Das Konzert für Orchester ist deshalb ein faszinierend janusköpfiges Werk: Es ist hörbar in der polnischen Folkloretradition verwurzelt und entsprechend eingängig. Die Liedbausteine jedoch weiß er in deutlich dem 20. Jahrhundert zugehörige Farben und spannende neue Harmonien zu setzen. Nicht ohne Grund ist das Konzert das einzige Werk aus seiner frühen Schaffensphase, das Lutosławski, der sich danach der Avantgarde zuwandte, auch später noch gelten ließ.


3. SINFONIEKONZERT
Peter Iljitsch Tschaikowski Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 b-Moll op. 23
Witold Lutosławski Konzert für Orchester
17. & 18.12.23 GROSSES HAUS