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BNN, 26.5.2012

Diese Abstraktion wiederum belebt das Ensemble durch vital pulsierende Figuren. Zuvorderst zu nennen sind Jan Andreesen als Anführer Musa und Antonia Mohr als Lehrerin Sonja Kelich: Andreesen trifft genau das richtige Maß, um anfangs durch schiere Präsenz bedrohlich zu wirken und später die Risse in Musas Fassade so anzudeuten, dass man sie als Zuschauer entdecken kann statt darauf gestoßen zu werden. Und Antonia Mohr zeigt, wie der scheinbare Kontrollgewinn der Lehrerin letztlich zum fast völligen Kontrollverlust führt: Das weggeduckte Mauerblümchen wird zunächst eine feurige Aufklärerin, deren Antrieb aber in mörderisch kalte Frustration kippt, als die Erfolge ausbleiben.

An ihrer Rolle zeigen sich die Reibungen der Integrationsdiskussion und die Grenzen der Toleranz am deutlichsten. Aber auch Simon Bauer als Sprücheklopfer Hakim, der ohne Hose erst ganz klein wird und dann in die Rolle von Ferdinand hineinwächst, Joanna Kitzl als züchtig rundum verhüllte Mariam, die als bedrängte Amalie ihre Frauen-Power rauslässt, aber an ihrem Kopftuch festhält, oder Matthias Lamp als schwerfälliger Ferit, der sprachlich mit der „sampftmütigen Vermumpft“ ringt – alle steuern sie punktgenau verschiedene Facetten bei.

Gleiches gilt für die eingestreuten Lieder, bei denen klar wird, wie schlüssig sich Günthers Inszenierung von der Ur-Version absetzt: In Berlin singt das migrantische Ensemble deutsche Volkslieder und integriert damit gewissermaßen die „Leitkultur“ in seine Welt. In Karlsruhe treffen nun in den Liedern selbst die Gegensätze aufeinan- der: Romantik und obszöne Schimpfereien, Schlager-Pathos und Hip-Hop-Prahlerei verschmelzen zur Einheit des Wohlklangs in eindrucksvoll präzisem achtstimmigem Gesang (Musik: Jan-S. Beyer / Jörg Wockenfuß).

Und am Schluss werden Schillers Räuber und die Ausgegrenzten von heute tatsächlich eins: Wenn das Klassenopfer Hasan (Thomas Halle) allein mit der Waffe zurückbleibt und beklemmend intensiv Karl Moors Anklage an die ungerechte Natur vorträgt. Die letzten Sätze treffen, in dieser Situation und in diesem Tonfall, ins Herz des Dilemmas, um das es zuvor 100 Minuten lang ging: „Es ist doch eine jämmerliche Rolle, der Hase sein zu müssen auf dieser Welt.“ Pause. „Aber der gnädige Herr braucht Hasen.“ Dunkel. Stürmischer, lang anhaltender Applaus.


Badisches Tagblatt, 1.6.2012

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Der Text setzt dabei lustvoll und ungemein unterhaltend auf die Hinterfragung von Klischees, lässt scheinbare Wahrheiten über Migranten à la Sarrazin ganz schnell an der Realität verpuffen. Und er stellt, ohne lehrhaft erhobenen Zeigefinger, auch die Frage, zu welchen Mittel ein scheinbar gut gemeinter Erziehungsansatz greifen darf, ohne ins Gegenteil umzuschlagen. Wie schnell aus dem vermeintlichen Opfer des Schülerterrors selbst eine rücksichtslose, sich im Gefühl ihrer neu gewonnen Macht sonnende Täterin wird, ist einer der zentralen Momente der Karlsruher Inszenierung. Ansonsten betont Regisseur Günther die im Stück angelegte Durchbrechung einer realistisch geprägten Sicht durch Stilisierung und besonders den Einsatz der Musik von Jan S. Beyer und Jörg Wockenfuss, die geschickt arrangierte Rap-Texte mit Schlagern kreuzt, die im Stile deutscher Volkslieder vom Ensemble sehr ordentlich gesungen werden.

Wirkt der Catwalk der Schüler, die sich in ihrer sehr modisch geprägten Kleidung als wandelnde Klischees präsentieren, zu Beginn noch als unpräzises Beiwerk, so wird die Inszenierung im Laufe der pausenlosen eindreiviertel Stunden immer dichter. Dabei kann Günther sich neben einer geschlossenen Ensembleleistung mit Antonia Mohr als Sonia Kelich auf eine Darstellerin stützen, die die Wandlung vom altjüngferlich-hilflos wirkenden Opfer zur einen pathosbehafteten Schillerschen Idealismus Predigenden, mit Waffengewalt bedenkenlos Durchsetzenden grandios spielt.
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Pforzheimer Zeitung, 26.5.2012

Nun plötzlich gerät das Personen-Tableau dieser Deutschstunde aus dem Lot: Täter und Opfer tauschen die Positionen. Die schlimmsten Krawallmacher werden zu Sensibelchen, und am Ende übernimmt selbst die sanfte Muslima Marian mit ungeahnter Energie das Regiment, während die überwältigte Lehrerin am „Erfolg“ ihrer didaktischen Bemühungen zweifelt.

Da ist im Bemühen um plakative Wirkung des Stückes und seiner Inszenierung durch Dominik Günther sehr viel wohlmeinende Zeigefingerei im Spiel. Bald wird klar, dass die Aufführung sich nicht um Lebensnähe bemüht, sondern eine exemplarische Versuchsanordnung entwirft. Die Produktion auf dem kahlen, nackten Handtuch-Podest des Kleinen Hauses macht aus ihrer vordergründigen Wirkungsabsicht kein Hehl. Sie verzerrt die Schülerfiguren vor allem am Anfang zu grellen Comedy-Nummern, über die das Publikum sich wie Bolle amüsiert und am Ende langen, herzlichen Beifall spendet, den das Ensemble verdient.


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